Wie sich Hannover neu erfunden hat
Veröffentlicht am 13.11.2021Zeitungsreporter Michael Krische reist zurück in die 1960er Jahre an der Leine.
Alte Hannover-Filme – da wird die Vergangenheit unserer Stadt wieder lebendig. Auch meine eigene – denn ich bin als junger Mensch dabei gewesen, als Hannover Ende der 60er- und Anfang der 70er-Jahre bunter und vielfältiger wurde. Zum Beispiel als Reinhard Schamuhn den Flohmarkt am Hohen Ufer der Leine mit einem Schuss Seine-Wasser taufte – eine Hommage an die Pariser Bouquinisten. Schamuhn, das war so ein richtiges hannöversches Original, ein wahrhaft verrücktes Huhn. Ich war ab 1969 Volontär bei der HAZ und berichtete darüber, wie Schamuhn an der Marstallbrücke einen Wettbewerb veranstaltete: Welches Mädchen trägt die heißesten, also die kürzesten Hotpants? Dazu ertönte aus Lautsprecherboxen der Song „Where is your mama gone?" von Middle of the Road. Klar, heute ein Fall von purem Sexismus – andere Zeiten eben...
Die Idee zur Gründung des Altstadt-Flohmarks stammte übrigens von dem Redakteur Klaus Partzsch, einem gebürtigen Dresdener, der sich in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung als begnadeter Glossenschreiber unter dem Pseudonym „Klapa“ einen Namen gemacht hatte. „Klapa“ trug gern einen Parka und rauchte in den Redaktionskonferenzen seine dort frisch selbstgedrehten Zigaretten. So habe ich ihn kennen gelernt. Zusammen mit dem Architekten Peter Grobe drehte er Filme und eröffnete sogar eine Kunstfilmgalerie.
Ach, wie bunt war unser Hannover geworden. Immer mehr graue Altbaufassaden leuchteten nun in saftigen Farben. Und die Kunst ging auf die Straße. Der damalige Oberstadtdirektor Martin Neuffer, der 1974 als Intendant zum Norddeutschen Rundfunk wechselte, hatte die Aktion Straßenkunst initiiert. Wir feierten die Kunst ausgelassen mit den ersten Altstadtfesten, tanzten auf der Straße und schoben riesige Kunststoffballons, Babbelplast genannt, vor uns her. Also von wegen: Hannover ist langweilig? Sogar die Süddeutsche Zeitung nahm von diesem bunten Treiben an der Leine respektvoll Notiz.
Regie bei all dem führte Mike Gehrke, ein wahres hannöversches Multitalent. „Mike“ war als städtischer „Imagepfleger“ (offiziell Kommunikationsreferent) Nachfolger von Reinhard Schamuhn als Flohmarktdirektor. Als langjähriger Vorsitzender des Jazzclubs am Lindener Berg machte er Hannover zur heimlichen deutschen Hauptstadt des Jazz. Und er knüpfte für die Stadt die Kontakte zu der französischen Künstlerin Nikki de Sainte Phalle. Als ihre Nanas, drei bunte dralle Damen, im Rahmen der Aktion Straßenkunst am Hohen Ufer aufgestellt wurden, waren die Reaktionen in der Stadt, sagen wir mal: geteilt. Heute werden die Nanas von den Hannoveranern geradezu kultisch verehrt. Wir führen garantiert jeden unserer Besucher dorthin. In Hannover sind also nicht nur Hunde an der Leine zu führen. Darauf hat sich schon unser DaDa-Künstler Kurt Schwitters in den 20er-Jahren einen Vers gemacht. Aber das ist wieder eine andere Geschichte…
Apropos 1969: Da verzeichnete die sogenannte Außerparlamentarische Opposition, kurz Apo, ausgerechnet in Hannover ihren größten bundesdeutschen Erfolg: Im sommerlichen Juni jenen Jahres gelang es den revolutionären „68ern“, bei Protesten gegen geplante Fahrpreiserhöhungen im bis dahin privat geführten öffentlichen Nahverkehr die bürgerlichen Massen zu mobilisieren. Ostern 1968 hatte ich noch selbst demonstriert. Bei dieser Gelegenheit hatte ich übrigens zum ersten Mal einen gewissen Herbert Schmalstieg getroffen. Der war da allerdings noch Juso-Chef. Vier Jahre später wurde er Oberbürgermeister und blieb das 34 Jahre lang.
Nun war ich also als junger Journalist bei der Aktion „Roter Punkt“ unterwegs. Junge Demonstranten blockierten die Gleise und skandierten: „Üstra, Üstra Ungeheuer, erstens Scheiße, zweitens teuer!“ Und sie riefen: „Bürger, lass das Gaffen sein, komm herüber, reih dich ein!“ Dieses Mal mit Erfolg. Die hannoverschen Zeitungen druckten rote Punkte ab. Ich berichtete darüber, wie sich Autofahrer diese roten Punkte hinter die Windschutzscheibe klebten und Fahrgäste mitnahmen. Den Ersatzverkehr organisierten an den Haltestellen junge Leute. Per Megafon riefen sie Fahrtziele aus. Derweil stimmte der Kabarettist Dietrich Kittner, selbst Mitinitiator des „Roten Punkts“ mit einer Klampfe in den Händen auf einer liegengebliebenen alten Straßenbahn auf dem Steintorplatz Protestlieder an. Auch ich bin übrigens damals von meiner Wohnung in der List zum Anzeiger-Hochhaus kostenlos befördert worden. Ich hatte ja noch kein Auto und keinen Führerschein. Die Aktion wurde ein Riesenerfolg. Die Üstra wurde kommunalisiert und ein Einheitstarif von 50 Pfennigen auf allen Strecken eingeführt. Dabei blieb es dann allerdings nicht. Heute ist die Nutzung von Bussen und Bahnen doch wieder deutlich teurer...
Michael Krische
Übrigens: Die historischen Filmdokumente aus dieser Zeit, die die Gesellschaft für Filmstudien e.V. neu herausgegeben hat, gibt es bei uns auf DVD. Hier geht es weiter zum Stöbern!
Mehr von Michael Krische gibt es im hannöverschen "Wort zum Sonntag" auf unserem Facebook- und Instagram-Kanal. Im Wechsel mit Carl-Hans Hauptmeyer zeigt er hier, dass die hannöversche Sprache quicklebendig ist.